Er war impulsiv, aufbrausend, jähzornig, kein angenehmer Mensch. Er konnte verletzen, unter Alkoholeinfluss verlor er schnell die Beherrschung.
In der Nacht vor seinem 45. Geburtstag, am 15. Februar 1928, geriet der Chefredakteur der „Münchner Neuesten Nachrichten“, Dr. Fritz Gerlich, in einen wüsten Streit mit Kollegen und Vorgesetzten. Er verfolgte den Verlagsdirektor Otto Pflaum durch die ganze Redaktion, schleuderte -als der sich entsetzt in seinem Büro verschanzte - sein volles Bierglas durch das gläserne Oberlicht und brüllte den herbeieilenden Seniorchef Friedrich Trefz an: „Verroll dich, du um dich selbst rotierendes Arschloch!“
Gerlichs Tage in dem renommierten Blatt, dem Vorgänger der heutigen „Süddeutschen Zeitung“, waren damit gezählt. Nicht lange vorher war er mit einem Droschkenfahrer aneinandergeraten; auf der Polizeiwache protokollierte man anschließend den „betrunkenen Zustand“ und das „unehrerbietige Benehmen“ des Chefredakteurs. Einen Beleidigungsprozess hatte er auch noch am Hals, seit er einen Ministerialdirektor einen Lügner genannt hatte. Und weil sich seine Frau über Gerlichs ständige Wutanfälle beschwerte, war er aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen und danach erst recht dem Alkohol verfallen.
Knapp neunzig Jahre später war von Fritz Gerlich wieder die Rede, im Münchner Liebfrauendom, mit Weihrauch und Chorgesang. „Schaut auf diesen Mann, der die Wahrheit gesucht hat!“, mahnte Kardinal Reinhard Marx und eröffnete den Seligsprechungsprozess für den Journalisten, der früher und klarer als die meisten die Abgründe der Nazi-Ideologie erkannt und sich „unter Einsatz seines Lebens auf die Seite des Lichts gestellt“ habe. Einmal mehr gelingt es der Kirche, über ihren Schatten zu springen: Nicht brav und bieder und nicht mal moralisch einwandfrei müssen ihre Leitfiguren sein, aber mutig, glaubensstark und überzeugende Kämpfer für die Menschenwürde.
Der 1934 von den Nazis umgebrachte Fritz Gerlich gehörte mit seiner schneidend scharfen Feder und seinen zwingenden Argumenten zu den profiliertesten Hitler-Gegnern in der deutschen Presselandschaft. „Der Nationalsozialismus ist eine Pest!“ titelte er in den Jahren 1932 und 1933, als Deutschland der Diktatur entgegentrieb, in seiner Wochenzeitung „Der gerade Weg“ in großen roten Lettern. Und: „Deutsche, Eure Menschenrechte sind in Gefahr!“
Dabei hatte Hitlers Erzfeind früher selbst dem nationalen Lager nahegestanden. 1883 in eine Stettiner Kaufmannsfamilie geboren, begeisterte sich Gerlich zunächst für Mathematik und Naturwissenschaften und brachte die strenggläubigen Pastorensöhne unter seinen Mitschülern mit spöttischen Bemerkungen zur Weißglut. Als Student in München wandte er sich dann ebenso leidenschaftlich der Geschichte zu.
Die mehr als dreitausend Kommilitonen vertretende Freie Münchner Studentenschaft wählte den spröden Calvinisten aus Pommern zu ihrem Vorsitzenden. Sein Studium musste er sich mit dem Entwurf von Werbebroschüren für „Kathreiners Malzkaffee-Fabriken“ verdienen. Seine Leistungen bei der Promotion waren so glänzend, dass man ihn verdächtigte, sich vorher Einsicht in die Prüfungsthemen verschafft zu haben. Gerlich bot empört eine Wiederholung mit neuen Themen an - und schnitt abermals als Jahrgangsbester ab. Postwendend erhielt er eine Anstellung im Königlich Bayerischen Geheimen Staatsarchiv.
Politisch engagierte er sich bei den Jungliberalen, schwenkte bei Beginn des Ersten Weltkriegs aber zu den „alldeutschen“ Patrioten um. Er hob eine Wochenschrift mit dem anspruchsvollen Titel „Die Wirklichkeit“ aus der Taufe, kritisierte die Kriegsführung der Reichsregierung als zu lasch, warb Freiwillige zur Befreiung Münchens von der kurzlebigen Räteherrschaft und zeigte sich in endlosen Leitartikeln als wütender Antikommunist. Die Zeitschrift war so rechtslastig, dass sie zeitweise von der Zensur verboten wurde.
Das brachte eine Gruppe rheinischer Schwerindustrieller, die gerade die angesehenen „Münchner Neuesten Nachrichten“ gekauft hatte, 1920 auf die Idee, den nationalkonservativen Archivar ohne große Zeitungserfahrung zum Chefredakteur des Blattes zu machen. Gerlich sollte die „Nachrichten“ zum „Bollwerk für nationale Erneuerung gegen Sozialismus und republikanische Politik“ gestalten.
Er überraschte in zweifacher Hinsicht: Einmal zeigte sich Gerlich lernwillig, verknappte und vereinfachte seine umfangreichen Abhandlungen, bat die Kollegen am Redaktionstisch um ihr Urteil und zerriss jeden Leitartikel sofort, wenn er keine Gnade vor deren Augen fand. Zum andern entzog er den Nationalkonservativen und den „Hakenkreuzlern“ nach dem missglückten braunen Putsch im Bürgerbräukeller 1923 entschlossen sämtliche Sympathien. Mittlerweile weiß man, von wem die Rede stammte, die der frühere bayerische Ministerpräsident und der spätere "Generalstaatskomissar" Gustav Ritter von Kahr dort zu halten begann, bis er vom wild in Richtung Decke schießenden Adolf Hitler zur Unterstützung eines Staatsstreichs gezwungen wurde: Die Rede hatte der damals noch glühende Nationalist Fritz Gerlich geschrieben (zusammen mit seinem Verleger und Kahrs Pressechef).
Doch Hitlers nassforsche Absetzung der Reichsregierung, sein Marsch zur Münchner Feldherrnhalle und das blutige Ende des Putschversuchs öffneten ihm die Augen. Gerlich entwickelte ein im damaligen Bayern ausgesprochen seltenes Wohlwollen für die Weimarer Republik und warb für Stresemanns Außenpolitik - was auch ohne die eingangs geschilderten Alkoholexzesse zum Bruch mit der Verlagsleitung geführt hätte. 1928 verließ Gerlich die Redaktion.
Ein Jahr zuvor hatte der nüchterne Skeptiker eine Begegnung mit einer Oberpfälzer Schneiderstochter und Bauernmagd gehabt, die seinem Leben eine neue Richtung geben sollte. Die „Resl von Konnersreuth“ ist wegen ihrer blutigen Freitagsvisionen und ihrer angeblichen Nahrungslosigkeit auch unter strammen Katholiken höchst umstritten. Klar ist allerdings, dass die Nazis in Resls Einflusssphäre nie einen Fuß auf den Boden brachten: Am 31. Juli 1932 zählte man in der Marktgemeinde Konnersreuth 14 Stimmen für die NSDAP, 22 für die Kommunisten, 734 für die Bayerische Volkspartei. Der abergläubische Adolf Hitler soll eine Heidenangst vor der „Resl“ gehabt haben.
Gerlich, skeptisch wie immer, machte sich mit den Worten „Dem Schwindel komme ich schon auf die Spur!“ auf den Weg nach Konnersreuth. Zurück in München, berichtete er allen atemlos von einem umgestürzten Weltbild. Er hatte im schlichten Glauben der „Resl“ etwas gefunden, wonach er laut eigener Aussage bisher vergeblich gesucht hatte. Mit Feuereifer machte er sich daran, die Glaubwürdigkeit der bäuerlichen Mystikerin zu verteidigen, unterzog sie erfinderischen Tests, las sich in Spezialliteratur über Krankheiten, Hysterie und Stigmatisation ein und erarbeitete ein dickleibiges Standardwerk, das 1929 bei Kösel & Pustet in München erschien. Zwei Jahre später trat der Achtundvierzigjährige zur katholischen Kirche über, ließ sich taufen, kirchlich trauen und von Kardinal Faulhaber firmen.
In Konnersreuth war es aber auch, wo Gerlich den aufrechten Fürsten Erich von Waldburg und Zeil traf und wo die ersten Pläne für eine Zeitung geschmiedet wurden. Sie sollte christliche Grundsätze politisch fruchtbar machen und Front gegen linke wie rechte Radikale. Mit der finanziellen Hilfe des Fürsten kaufte Gerlich 1930 ein anspruchsloses Unterhaltungsblatt namens „Illustrierter Sonntag“, das er geschickt in eine Wochenzeitung mit eindeutig antinazistischer Zielrichtung verwandelte.
Mit Preisausschreiben und populären Artikeln - „Ist Kommunismus möglich?“, „Nacktkultur und gesunde Ehe“ - schnellte die Auflage auf über hunderttausend. Gerlich führte auffallende rote Druckfarbe für die Schlagzeilen ein und schrieb Glossen und Kommentare, die es an Eindeutigkeit nicht fehlen ließen. Pikanterweise wurde das Blatt im selben Haus gedruckt wie die Pflichtlektüre der Nazis, der „Völkische Beobachter“. Hitler und Gerlich eilten in den Betriebsräumen ständig aneinander vorbei, und das katholische Blatt wurde immer kompromissloser und härter im Ton.
Als Fritz Gerlich im Februar 1932 schließlich unter dem Titel „Hetzer, Verbrecher und Geistesverwirrte“ mit der braunen Presse abrechnete, erlitt Hitler einen Wutanfall und drohte dem Druckereileiter, er werde sich eine andere Firma für seine Zeitung suchen. Händeringend kam der verschüchterte Mensch zu Gerlich, der daraufhin zur katholischen Druckerei Manz wechselte und sein Blatt jetzt „Der Gerade Weg - Deutsche Zeitung für Wahrheit und Recht“ nannte.
Fritz Gerlich zitierte aus Hitlers „Mein Kampf“: Die Deutschen hätten ja keine Ahnung, „wie man das Volk beschwindeln muss, wenn man Massenanhänger haben will“. In späteren Auflagen ließ Hitler die offenherzige Aussage tilgen. Gerlich: „Ihr, die Ihr diesem Betruge eines von der Gewaltherrschaft Besessenen verfallen seid, erwacht! Es geht um Deutschland, um Euer, um Eurer Kinder Schicksal.“ Von der bayerischen Regierung verlangte der Chefredakteur, die Führer der NS-Partei zu verhaften - natürlich vergeblich. Hellsichtig wie wenige warnte Gerlich auch hartnäckig vor den Anbiederungsversuchen der Bayerischen Volkspartei und des Zentrums gegenüber den Nazis. Es sei unanständig, gemeinsam mit „Kameraden von Meuchelmördern“ politische Mehrheiten zu suchen. Bei der Reichspräsidentenwahl 1932 bekam Hitler im Verbreitungsgebiet des „Geraden Wegs“ nicht einmal ein Viertel der Stimmen.
Als er am 30. Januar 1933 dennoch Reichskanzler wurde, schrie Fritz Gerlich seine Verzweiflung darüber heraus, dass man „denjenigen, der mit dem stärksten Brustton der Überzeugung die größten Irrtümer vertritt“, als Befreier bejuble. Nicht lange danach, am 9. März, stürzte die Hausmeisterin abends in die Redaktion und rief voller Angst: „Die Hitler kommen!“ Am Nachmittag hatte ein anonymer Sympathisant angerufen und vor einem geplanten Angriff der SA gewarnt; Mitarbeiter hatten Gerlich angeboten, ihn über die Schweizer Grenze in Sicherheit zu bringen. Empört lehnte er ab:
„Und Sie alle soll ich hier lassen? Dass Sie für mich büßen müssten? Ich werde den Schreibtisch nicht verlassen.“ Es war, ohne jedes Pathos, der bewusste Entschluss zum Martyrium. Bewaffnete SA-Horden stürmten mit „Heil!“-Rufen die Treppe hinauf: „Wo ist der Gerlich, die Sau?“ Schreibtische und Aktenschränke wurden aufgesprengt, sämtliche Manuskripte, Briefe und Dokumente auf Lastwägen abtransportiert. Plötzlich schrie ein Mann aus Gerlichs Fenster auf den Hof hinunter:
„Etz hamman gfundn! I hobn glei so in d’ Fotzn neig’haut, dass eahm d’ Soß obag’runna is!“ Mit drohend vorgehaltenen Pistolen verlangten die Nazis von dem blutüberströmten Publizisten Auskunft über Gewährsmänner und Informationsquellen. Als er sich auf das Redaktionsgeheimnis berief, wurde er misshandelt. Stunden später traf der Adjutant des SA-Chefs Ernst Röhm ein, es gab eine weitere Prügelorgie. Im Münchner Polizeipräsidium sprang ein gestiefelter SA-Mann mit voller Wucht auf Gerlichs Hände und zertrat ihm die Finger, er sollte nie mehr schreiben können. Er sei so geprügelt worden, gab später ein Mitgefangener zu Protokoll, „dass er beständig auf dem Boden umherkugelte, dass man ihn mit dem Kopf an die Wand stieß und am Fußboden mit Stiefeln traktierte, so dass schließlich sein ganzer Körper voll blauer Flecken war und Wochen brauchte, bis er wieder ein normales Aussehen erlangte“. In diesen Wochen wurde kein Arzt zu dem Gefolterten vorgelassen und auch kein Priester.
Erst danach erlaubte man seiner Frau zwei Besuche pro Monat. Gerlich wurde ins Gefängnis München-Stadelheim verlegt und immer wieder auf einen Prozess beim obersten Reichsgericht vertröstet. Schließlich kam der Bescheid, einen solchen Prozess werde es nicht geben, man behalte ihn aber in „Schutzhaft“, da man draußen für sein Leben keine Garantie übernehmen könne. Gerlich fiel darauf nicht herein. Einem Haftgenossen erklärte er: „Ich weiß, man wird mich ermorden. Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, in der Öffentlichkeit zu erklären, dass ich, wie immer die Nachricht von meinem Tod lauten möge, niemals Selbstmord begehen werde.“
Der Publizist wusste zu viel. Er hatte detaillierte Informationen darüber, dass Goebbels mit Görings Hilfe den Reichstagsbrand inszeniert hatte. Er habe auch Zeugen dafür, dass Hitler seine Nichte Geli mit eigener Hand erschossen habe, weil sie von ihm schwanger gewesen sei, eröffnete er dem Mithäftling. Offiziell hatte man von einem Selbstmord des Mädchens gesprochen und eine Nachrichtensperre verhängt.
Am 30. Juni 1934 verbreitete sich im Gefängnis die Kunde vom Vernichtungsschlag Hitlers gegen Röhm und die SA-Führung. Da wusste Gerlich, dass seine Tage gezählt waren. Er hatte viel über die Zwistigkeiten zwischen der SA und den übrigen NS-Machteliten geschrieben und umfassendes Material über Putschgerüchte gesammelt. Seine Ahnung trog ihn nicht: Stunden später brachte man ihn nach Dachau und erschoss ihn gleich bei der Einlieferung ins KZ. Auf dem Münchner Ostfriedhof wurde seine Leiche mit etlichen anderen Mordopfern verbrannt; niemand weiß, welche der dort aufbewahrten Urnen seine Asche birgt.
Am Allerheiligentag desselben Jahres hatte eine Schneiderstochter im weit entfernten oberpfälzischen Konnersreuth eine Vision von den himmlischen Scharen. Unter den Auserwählten, glücklich vollendet in der Nähe Gottes, will die "Resl" auch Fritz Gerlich erkannt haben.
Von Christian Feldmann in der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS) vom 18. Februar 2018